ALLEGORIE

 

Sandro Botticelli (1445 - 1510): Primavera (Der Frühling), 1478

Tempera auf sieben verbundenen Pappelbrettern, 203 x 314 cm, Florenz, Uffizien

 

           
PRIMAVERA / DER FRÜHLING VENUS EROS / CUPIDO DIE DREI GRAZIEN GRAZIEN, Detail FLORA FLORA,
Detail
CHLORIS UND ZEPHYR MERKUR MERKUR,
Detail

  

"Im Reich, wo alle Anmut sich erfreut,
wo Schönheit Haar mit bunten Blumen schmückt,
wo Zephyr voll Verlangen Flora folgt
und fliegend Blumen streut auf grüne Flur ...
Die Freude tanzet mitten auf den Wegen,
Wonne und Schönheit jubeln Voller Lust."

Agnolo Poliziano, Stanze I, 68; 74

 

Seit Giorgio Vasari liegt die Identifizierung der mythologischen Figuren fest; allegorisch könnte man das Bild folgendermaßen deuten: La Primavera zeigt das Reich der Venus. Der Gott des Westwindes, Zephyr (nach Plinius der "genitalis spiritus mundi", der lebenspendende Geist der Welt), vermählt sich mit der Nymphe Chloris und verwandelt diese in die Frühlingsgöttin Flora. Deren Blumen stehen im April in voller Blüte, im Monat der Venus, der Göttin der Schönheit, Liebe und Fruchtbarkeit. Cupido ist der fruchtbare Geist, geboren aus der Verbindung von Venus und Merkur. Die drei Grazien gehören als niedere Naturgöttinen zum Gefolge der Venus.

Das Gemälde ist für Lorenzo di Pierfrancesco de'Medici anläßlich seiner Hochzeit mit Semiramide Appiani im Mai 1482 gemalt worden. Es besteht heute kein Zweifel mehr darüber, daß das Bild eine Allegorie darstellt und zentrale Gedanken der neoplatonischen Philosophie verkörpert.

Einen der ersten Interprationsversuche unternahm Adolph Gaspary, der 1888 vermutete, daß der Frühling möglicherweise Motive aus einer Stanze Agnolo Polizianos (siehe oben) aufgegriffen habe, die 1475 anläßlich eines Turniers, das Giuliano, der Bruder Lorenzos des Prächtigen, veranstaltet hatte. Merkur verkörpere Giuliano, Flora seine Turnierdame Simonetta Vespucci; oder das ganze Bild stelle Simonettas Ankunft in einer zukünftigen Welt dar (sie starb sehr jung). Es ist anzunehmen, daß Poliziano, als Dichter, Philologe und Philosoph Mitglied des Medici-Kreises, Botticelli mit Lektüre und Deutung der klassischen Texte Ovids, Vergils und Lukrez' vertraut gemacht und ihn bei der Ausführung des Bildes beraten hat.

Sowohl der "Frühling" wie "Die Geburt der Venus" sind eng mit der Person des Lorenzo die Pierfrancesco verbunden. Die Erziehung des Waisenkindes war Lorenzo dem Prächtigen anvertraut worden, der neben anderen Marsilio Ficino, den Begründer des Neuplatonismus, als seinen Lehrer bestimmte. 1945 untersuchte Ernst H. Gombrich einen Brief, in dem Ficino seinen Schüler Lorenzo dazu ermahnt, seine Handlungen nur vom "Geist" bestimmen zu lassen, um so mehr, als sein Horoskop unter der Konjunktion von Mars und Venus stünde. Im Grunde nimmt dieser Brief die Allegorie des Bildes vorweg. Bei anderer Gelegenheit äußerte Ficino, der bloße Anblick der virtus, der Tugend, besitze mehr Überzeugungskraft als alle Ermahnungen. Venus war nämlich nicht nur die Göttin aus Polizianos Idyllen; sie war auch die Inkarnation des Prinzips von Ficinos philosophischer Lehre: Die Liebe ist eine elementare Lebensgewalt; sie kann aber vor allem die materielle Welt in ein geistiges Reich der Idee verwandeln. Die klassische Venus wird zur Venus humanitas. Sie weckt Leidenschaften, aber sie sublimiert sie zu universeller Harmonie. Wie die christliche Gottheit stellt sie sich in den drei Grazien als Dreifaltigkeit dar. Schon Seneca pries die Grazien als die dreifache Verkörperung der Liberalitas, der selbstlosen Liebe, als Geben, Empfangen und Erwidern. Metaphysisch gesprochen: Gott gibt dem Menschen seine Liebe, dieser empfängt sie und erwidert sie durch Hingabe und Anbetung.

Den Frühling kann man auch als geheimnisvolle, mystische Anspielung ansehen auf den platonischen Wechsel vom aktiven zum kontemplativen Sein, anders, von der Zeit zur Ewigkeit. Ovid erzählt die Sage von Zephyr, der sich mit der Nymphe Chloris vermählt und sie, die die Blumen wachsen läßt, nach der Vermählung in die Göttin Flora verwandelt. Der Mythos zeigt, wie sich die ursprünglichen Kräfte der leidenschaftlichen Liebe zur remeatio, zur Rückkehr zum übernatürlichen Ursprung und zur geistigen Kontemplation wandeln können. Venus, die Venus der Harmonie, bedingt diesen Prozeß der Vergeistigung, die wiederum von den drei Grazien symbolisiert wird; Merkur, wiedererstandene orphische Gottheit, der die Seele ins Jenseits führt, öffnet der verzückten Liebe, die den Weg von der Leidenschaft zur Kontemplation zurückgelegt hat, die unendlichen Horizonte des Jenseits fern jeder Wirklichkeit, unbeschreibbar, vom Verstand nicht erfaßbar.

Ein anderer Versuch deutet das Bild als eine gemalte Bitte an Giuliamo, mehr Anteil am aktiven Leben zu nehmen. Eine weitere außerordentlich verflachende Deutung reduziert das Bild auf die Wiedergabe eines mythologischen Balletts, damals in Florenz sehr populär.

Nach wie vor erscheint eine Deutung im Sinn des Platonismus als die plausibelste, wenngleich sie Gefahr läuft in zu engen, zu sehr festlegenden Parallelen und Analogien der Bildelemente zur zeitgenössischen Philosophie zu verharren und die künstlerische Imagination von Botticelli zu unterschätzen. Botticelli war kein Illustrator.

Nach der Restaurierung des Bildes um 1980 leistete Guido Moggi von der Universität Florenz einen wertvollen Beitrag zur wissenschaftlichen Untersuchung, indem er alle dargestellten Pflanzen neu bestimmte. Fast alle Grünpflanzen und Blumen, von denen es allein auf der Wiese 190 verschiedene gibt, konnten wirklich existierenden Arten zugeschrieben werden. Aus der Symbolik der Pflanzen und ihrer Zuordnung zu bestimmten Figuren schloß man, daß die Primavera aus Anlaß der Hochzeit Lorenzo di Pierfrancesco am 19. Juli 1482 vollendet wurde. Dieser Tag war ein Freitag - der Tag, der der Venus heilig ist. Venus beherrscht die Szene, bekränzt mit der Myrte, dem Hochzeitsgewächs. Zephyr und Chloris / Flora bilden eine Gruppe zu ihrer Rechten. Chloris ist leicht an den Rosen, die ihrem Mund entspringen, zu erkennen; Flora an den Irisblüten, die sie als Zephyrs Braut schuf. Flora personifiziert die Vermählung; ihre Pflanzen sind Immergrün, Myrte, Kornblume, Rose, Nelke, wilde Erdbeere, Hahnenfuß und roter Mohn. Von den drei Arten der Liebe in der Philosophie Ficinos - amor divinus, göttliche Liebe; amor humanus, menschliche und amor ferinus, leidenschaftliche Liebe - verkörpern Zephyr und Chloris die leidenschaftliche, die mittlere Grazie mit der weißen Lichtnelke (Mychnis album) die menschliche und Merkur die göttliche Liebe. Ihm sind Flachs, Astern, Nelken und Brunnenkresse zugeordnet, außerdem finden sich auf seinem Umhang Flammen. Zu Füßen der Venus entdeckt man Hahnenfuß und Veilchen; die Stickerei im Oberteil des Gewandes der Venus, die ihre Brüste betont, symbolisiert die Flammen der Liebe. Die Grazien schenken Orangen zum Hochzeitsfest, tanzen einen Reigen und verkörpern die drei Gestirnskonstellationen des Frühlings: Aries (Schütze), Taurus (Stier) und Gemini (Zwillinge); zugleich sind sie Schutzpatronninen des nahegelegenen Medici-Besitzes bei Careggi, dessen lateinischer Name charitum ager, Feld der Grazien, lautet. Cupido zielt seinen Flammenpfeil auf die mittlere Grazie, die voller Zuneigung zu Merkur hinüberschaut. Der jedoch durchsticht, abgewandt, eine kleine Wolke mit seinem Stab und schaut in ein geheimnisvolles Jenseits.

 

 

 


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